Immobilienbewertung im Erbfall: Verkehrswert oder Steuerwert?
Wer eine Immobilie erbt, steht oft vor einer überraschend komplexen Frage: Welcher Wert gilt eigentlich – der Verkehrswert oder der Steuerwert? Die Antwort entscheidet nicht nur darüber, wie hoch die Erbschaftsteuer ausfällt, sondern kann auch Einfluss auf die Aufteilung des Nachlasses und auf Pflichtteilsansprüche haben. Der folgende Beitrag erklärt die Unterschiede, die gesetzlichen Grundlagen und worauf Erben und Nachfolger achten sollten, um keine unnötige Steuerlast zu riskieren.
1. Zwei Bewertungsbegriffe – zwei unterschiedliche Ziele
Bei Immobilien im Nachlass unterscheidet das Recht zwei Bewertungsmaßstäbe:
Verkehrswert (Zweck: tatsächlicher Marktwert der Immobilie, rechtliche Grundlage: § 194 BauGB) und
Steuerwert (gemeiner Wert) (Zweck: Bemessungsgrundlage für die Erbschaftsteuer, rechtliche Grundlage: §§ 9, 12 ErbStG i.V.m. §§ 177 ff. BewG)
Diese beiden Werte verfolgen völlig unterschiedliche Ziele:
Der Verkehrswert beschreibt den Marktwert – also den Preis, der bei einem Verkauf voraussichtlich erzielt werden könnte.
Der Steuerwert dagegen ist ein typisierter, gesetzlich geregelter Wert, der der Finanzverwaltung eine einheitliche, nachvollziehbare Grundlage für die Besteuerung bieten soll.
Beide Werte können deutlich voneinander abweichen – oft um 10 bis 40 %, je nach Region, Nutzungsart und Bewertungsverfahren.
2. Wie der Steuerwert ermittelt wird
Die Erbschaftsteuer richtet sich nach dem gemeinen Wert der Immobilie (§ 12 ErbStG). Dieser wird nach den Vorschriften des Bewertungsgesetzes (BewG) berechnet. Je nach Art der Immobilie gelten unterschiedliche Verfahren:
a) Unbebaute Grundstücke (§§ 178, 179 BewG)
Bewertung auf Basis des Bodenrichtwerts. Dieser wird von den örtlichen Gutachterausschüssen festgelegt und regelmäßig aktualisiert.
Beispiel:
Grundstück mit 800 m², Bodenrichtwert 600 €/m² - Steuerwert: 480.000 €
b) Ein- und Zweifamilienhäuser (§ 183 BewG)
Bewertung nach dem Vergleichswertverfahren: Hier werden Verkaufspreise ähnlicher Immobilien im selben Gebiet herangezogen. Wenn keine Vergleichsdaten vorliegen, nutzt das Finanzamt Vergleichsfaktoren aus Gutachterausschüssen.
c) Miet- oder Geschäftsimmobilien (§§ 184–188 BewG)
Bewertung nach dem Ertragswertverfahren:
Jahresnettomiete abzüglich Bewirtschaftungskosten,
Abzug der Bodenwertverzinsung,
Multiplikation mit dem Kapitalisierungsfaktor (abhängig von der Restnutzungsdauer und dem Zinssatz).
Beispiel:
Nettojahresmiete 60.000 €, Bewirtschaftungskosten 8.000 €, Bodenwert 300.000 €, Liegenschaftszinssatz 3,5 % - Ertragswert ca. 1,4 Mio. €
d) Betriebsimmobilien (§§ 189–191 BewG)
Hier wird das Sachwertverfahren angewendet, da häufig keine marktüblichen Mieten existieren. Die Bewertung erfolgt nach Herstellungskosten, Alterswertminderung und einer Marktanpassung (Wertzahl).
3. Verkehrswert – der reale Marktwert
Der Verkehrswert nach § 194 BauGB bezeichnet den Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr bei einem Verkauf zu erzielen wäre. Er wird typischerweise von öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ermittelt.
Die Wertermittlung kann über folgende Verfahren erfolgen:
Vergleichswertverfahren
Ertragswertverfahren
Sachwertverfahren
Im Unterschied zum Steuerwert berücksichtigt der Verkehrswert:
die tatsächliche Lagequalität,
bauliche Besonderheiten oder Mängel,
Nachfrageentwicklung,
und den individuellen Zustand der Immobilie.
Das führt dazu, dass der Verkehrswert häufig höher (in begehrten Lagen) oder niedriger (bei Sanierungsbedarf) ausfällt als der Steuerwert.
4. Wann welcher Wert zählt
Berechnung der Erbschaftsteuer: Hier ist maßgeblicher Wert der Steuerwert nach BewG. Er ist die Grundlage für die Steuerfestsetzung durch das Finanzamt.
Nachlassaufteilung / Pflichtteilsberechnung: Maßgeblicher Wert ist der Verkehrswert. Er ist Maßstab für die gerechte Verteilung und Pflichtteilsansprüche.
Verkauf einer geerbten Immobilie: Hier kommt es ebenfalls auf den Verkehrswert an, der dann eine Orientierung für den real erzielbaren Preis darstellt.
Übertragung im Rahmen der Unternehmensnachfolge: Hier kommt es wiederum auf den Steuerwert und evtl. ein Verkehrswertgutachten an. Wichtig sind der Wert für die Abgrenzung von Betriebs- und Privatvermögen.
In der Praxis kann es sinnvoll sein, beide Werte ermitteln zu lassen – insbesondere wenn der Steuerwert deutlich über dem tatsächlichen Marktwert liegt. Das Finanzamt ist zwar grundsätzlich an die gesetzlichen Bewertungsverfahren gebunden, muss jedoch nach § 198 BewG abweichen, wenn der nachgewiesene Verkehrswert niedriger ist.
Tipp:
Legen Sie bei erheblicher Abweichung ein Gutachten eines öffentlich bestellten Sachverständigen vor. Das Finanzamt muss dieses prüfen und kann den Steuerwert entsprechend herabsetzen.
5. Auswirkungen auf die Erbschaftsteuer
Der Unterschied zwischen Verkehrswert und Steuerwert wirkt sich unmittelbar auf die Bemessungsgrundlage aus.
Beispiel:
Immobilienwert laut Finanzamt: 1,2 Mio. €
Nachweisbarer Verkehrswert: 950.000 €
Steuerklasse I (Kind) mit Freibetrag 400.000 €
Steuerpflichtiger Erwerb:
ohne Gutachten: 800.000 € → Steuer ca. 116.000 €
mit Gutachten: 550.000 € → Steuer ca. 67.000 €
Ergebnis: Ein anerkanntes Gutachten kann die Steuerlast um fast 50 % senken.
6. Besonderheit bei Betriebsimmobilien
Bei betriebsnotwendigen Immobilien (z. B. Werkstatt, Produktionshalle, Kanzleigebäude) gelten die Verschonungsregelungen nach §§ 13a, 13b ErbStG. Das bedeutet:
Bis zu 85 % oder sogar 100 % des Immobilienwerts können steuerfrei bleiben, wenn das Unternehmen fortgeführt wird und die Voraussetzungen (Lohnsummenregel, Behaltensfrist) erfüllt sind. Hier ist eine korrekte Abgrenzung zwischen betriebsnotwendigem und nicht betriebsnotwendigem Vermögen entscheidend – eine häufige Fehlerquelle bei der Nachfolgeplanung.
Fazit
Ob Verkehrswert oder Steuerwert maßgeblich ist, hängt vom Kontext ab – steuerlich zählt meist der Steuerwert, zivilrechtlich der Verkehrswert. Für die Praxis gilt: Wer den tatsächlichen Verkehrswert belegen kann, spart im Zweifel Steuern. Eine frühzeitige Bewertung und rechtliche Begleitung vermeiden Streit mit dem Finanzamt und schaffen Klarheit im Familien- oder Unternehmensnachfolgeprozess.